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04.10.2021
Wovor gruselst du dich?
Auf die Frage „Wovor hast du Angst?“ fallen mir spontan zwei Dutzend Dinge ein. Allen gemein ist, dass sie einen realen Hintergrund besitzen. Die meisten sind – glücklicherweise! – nicht sehr wahrscheinlich, jedoch möglich.
Aber Grusel? Ein seltener und erlesener Zustand.
Unheimliche Geschichten – Grusel garantiert?
In jungen Jahren habe ich die Kassetten der Europa-Gruselserie rauf- und runtergehört und an Büchern alles verschlungen, was die Stadtbücherei in diesem Genre hergab. Anfangs Sammlungen mit unheimlicher Literatur, später stand häufig „H. P. Lovecraft“ oder „Stephen King“ auf dem Einband. Seitdem war klar: Übernatürlicher Horror ist die Art von Spannung, die ich liebe. Krimis kann ich i. d. R. nicht viel abgewinnen, am ehesten noch in filmischer Form; die Klassiker um Miss Marple und Hercule Poirot schaue ich mir immer mal wieder an. Thriller, die kunstvoll einen paranormalen Hintergrund aufbauen, um ihn am Ende mit einer – häufig hanebüchenen – realen Erklärung niederzureißen, nerven mich. Leider weiß man das vor Kauf des Buches nicht immer. Die Alles-nur-Fake-Wendung mochte ich schon als Kind bei den Drei Fragezeichen nicht, so sehr ich die Reihe ansonsten liebte. Ich bevorzuge Geschichten, in denen das Unerklärliche unerklärbar bleibt und die Grenzen zwischen Realität, Traumgeschehen, Wahn und Übernatürlichem verschwimmen oder, im Sinne des Magischen Realismus, die Existenz einer anderen Wirklichkeit als gegeben vorausgesetzt wird.
Seit meiner Teenagerzeit erweiterte sich mein Lese-Horizont nach und nach um einschlägige Werke der Großmeister Unheimlicher Phantastik wie Arthur Machen, Algernon Blackwood, M. R. James, C. A. Smith, Robert Bloch und viele andere. Auch heute bereitet mir die Lektüre unverändert Vergnügen, immer wieder entdecke ich durch Tipps von Bloggern und Facebook-Freunden oder in Foren wie der Phantastik-Kneipe (Link zur Forenstartseite) neue Perlen. Aber gruselt es mich beim Lesen? Das hieße, ich müsste ein Gefühl von Beklemmung spüren, das nachhallt. Es müsste mich wie früher als Kind dazu veranlassen, in den Schatten der Dinge mehr zu sehen als das Offensichtliche. Auf leise Geräusche zu lauschen, für die sich nicht sogleich die Ursache erschließt. Mich dazu drängen, nachts das Licht einzuschalten, wo ich sonst im Dunkeln meinen Weg finde.
Alle Realität ist kosmischer Horror
Tatsache ist, dass es mir seit vielen Jahren schwerfällt, Lesestoff zu finden, der diesem Anspruch genügt, was selbstverständlich an mir liegt. Bereits als Kind glaubte ich nicht wirklich an das Vorhandensein unsichtbarer Welten, dafür war ich viel zu sehr in der Realität verhaftet. Aber natürlich besitzt man mit zehn oder zwölf Jahren noch nicht die nötige Lebenserfahrung – man könnte auch schreiben: die eingeschränkte Sichtweise – der gereiften Persönlichkeit, um mit Sicherheit auszuschließen, es könnte nicht doch ein Fünkchen Wahrheit in all den Spuk- und Monstergeschichten stecken. Meine gleichzeitige Freude an Naturwissenschaften verhinderte jedoch zuverlässig etwaige spiritistische Anwandlungen. Diese etwas widersprüchliche Interessenlage teile ich mit niemand Geringerem als H. P. Lovecraft, der ungeachtet der von ihm erschaffenen düster-phantastischen Welten die Existenz des Übernatürlichen ausschloss. Entsprechend liegt der Kern seines kosmischen Horrors gar nicht so sehr in den monströsen, den Verstand vernichtenden Wesenheiten, sondern in der Bedeutungslosigkeit menschlichen Seins, in der vollkommenen Verlorenheit unserer Spezies im Kosmos. In der Erkenntnis, dass jedwedes Leben nur ein Zufallsprodukt ebenso zufälliger Gegebenheiten ist, ohne jeden Sinn und Zweck als den, sich endlos weiter zu reproduzieren.
Faszination versus Schock
Wenn ich unheimliche Literatur lese, so faszinieren mich die Idee, die Atmosphäre, der Stil, die Figuren … bestenfalls begeistert mich das Zusammenspiel dieser Elemente. Trotz alledem läuft mir kein Schauder den Rücken hinab, die Schatten der Dinge geben nicht vor, etwas anderes zu sein, und ich fühle mich geborgen in der Dunkelheit statt ängstlich. Das erzeugt ein Gefühl von Verlust. Ginge es lediglich um den Nervenkitzel, könnte ich Extreme Horror lesen. Allerdings sind Abscheu und Ekel etwas anderes als Angst. Erschrecken, erzeugt durch Jumpscares in Horrorfilmen, nicht mehr als eine physiologische Reiz-Reaktions-Kette. Blutige Szenen in Wort oder Bild stören mich nicht, lösen aber auch nichts in mir aus. Folterszenen dagegen rufen ein körperlich spürbares Unwohlsein hervor, das dem Lesegenuss zuwiderläuft. Also bleibe ich (weitgehend, wenn auch nicht ausschließlich) der Dunklen Phantastik treu und freue mich, ab und zu auf eine Geschichte zu stoßen, die wenigstens ein Echo von Grusel in mein Bewusstsein zaubert. Viele sind es nicht, was nicht heißt, ich hätte nicht jede Menge hervorragende Geschichten gelesen, die mich durch Handlung, Stimmung oder außergewöhnliche Figuren in den Bann zogen. Meine Grusel-Unfähigkeit ist mein Problem, kein Qualitätskriterium der jeweiligen Story.
Ich frage mich, ob der Verlust der Fähigkeit, unheimlichen Schauder zu empfinden, bei allen Menschen mit dem Älterwerden und wachsender Lebenserfahrung verloren geht. Wird sie überlagert von realen (oder auch irrealen, siehe unten) Ängsten und Sorgen? Deren Existenz lässt sich nicht leugnen, während der Gedanke an die Möglichkeit, es könnte neben der realen Welt noch etwas anderes geben, zu zwergenhafter Lächerlichkeit schrumpft.
Was ist Grusel?
Grusel ist mit Angst verwandt, doch keineswegs ein synonymer Begriff. Angst, Furcht, das sind entwicklungsgeschichtlich überlebenswichtige, aber negative Gefühle oder, exakter, Gemütszustände, die sich unangenehm anfühlen. Ebenso Grauen und Entsetzen. Bei Grausen und Schaudern ist die Zuordnung hingegen kontextabhängig. Wie die letzten beiden ist Grusel keine der klassischen Grundemotionen. Was ihn interessant macht, ist das Verschmelzen von negativ und positiv empfundenen Gefühlen. Auf der einen Seite ganz klar der Schrecken. Die andere Hälfte ist etwas schwieriger zu benennen: Aufregung und Interesse sowie – ganz wichtig – Erleichterung. So hoch der Puls schlägt, so sehr die Handflächen schwitzen, eins ist gewiss: Allerspätestens nach Ende des Films, des Buches ist klar, dass die Gefahr einen nicht betrifft. Ein stimulierendes Erlebnis, dessen Reiz aus dem qualvollen Gefühl von Angst (nicht selten gemischt mit Ekel) erwächst mit der abschließenden befreienden Erkenntnis, es überstanden, „überlebt“ zu haben. Eine Form der Katharsis, vorausgesetzt, man ist imstande, das Entsetzen der Hauptfigur nachzuempfinden, für die die Geschichte meist weniger gut ausgeht. Sympathie für das Opfer als Voraussetzung für die Lust an der Angst ist freilich nicht notwendig, im Zusammenhang mit Phänomen wie Gaffen und Katastrophentourismus sogar eher hinderlich. Zum Grusel gesellt sich hier eine plumpe, triebhafte Freude am Voyeurismus.
Angst vor dem Unerklärlichen, dem Mysterium
Anders sieht es aus, wenn der Grusel nicht unmittelbar durch das Medium Buch oder Film hervorgerufen wird, sondern der eigenen Vorstellungskraft entspringt. Die Gänsehaut, wenn man als Kind in den dunklen Keller geschickt wurde, um irgendetwas heraufzuholen. Nachts über einen Friedhof schleichen als Mutprobe. Wenn einen ein unbekanntes Geräusch aus dem Schlaf reißt (vorausgesetzt, ein Wohnungseinbruch ist ausgeschlossen), kann das auch bei einem Erwachsenen beängstigende Assoziationen hervorrufen, die sich aus dem noch halb schlafenden Zustand erklären. Erinnerungen an Gespenstergeschichten werden wach. Knarrende Treppenstufen, das Quietschen einer zuvor geschlossenen Tür, die sich allmählich öffnet … Derartige Anzeichen kündigen klassischerweise den Spuk an.
Neben der Furcht vor dem Unheimlichen existiert noch eine andere Facette von Furcht vor dem Unbegreiflichen: die der Begegnung mit dem Übermenschlichen, dem göttlichen Mysterium, die für Gläubige gleich welcher Religion zumindest theoretisch im Bereich des Möglichen liegt. Interessant wäre es herauszufinden, ob Menschen, die an ein nach heutigem Wissenstand nicht nachweisbares höheres Wesen (oder mehrere) glauben, grundsätzlich eher bereit sind, übernatürliche Ursachen zu erwägen, wenn sie sich mit vermeintlich Unerklärlichem konfrontiert sehen. Umgekehrt gefragt: Gibt es abergläubische Atheisten oder ist das nicht vielmehr ein Widerspruch in sich?
Unbegründete Angst
Die Übergänge von der tief verwurzelten Angst vor dem Unerklärlichen zu irrationalen, aber greifbaren Ängsten sind fließend. Im Keller lauern höchstwahrscheinlich ein paar handtellergroße Hauswinkelspinnen, zwar vollkommen harmlos, aber aus irgendeinem Grund lösen die nützlichen Tierchen bei vielen Menschen Unbehagen bis hin zu Panik aus. Nebenbei bemerkt: Dass Spinnenangst unter die „Urängste“ des Menschen einzuordnen ist, wie lange behauptet wurde, bezweifeln Psychologen inzwischen (Link zum Artikel auf WELT Online). Das Gift der meisten einheimischen Spinnen ist für Menschen harmlos. Zudem ist das Risiko, von einer Wespe oder Biene gestochen zu werden, ungleich größer als das eines Spinnenbisses. Dennoch ist die Angst vor den Achtbeinern erheblich weiter verbreitet. Anderswo auf der Welt werden Spinnen sogar verzehrt – für einen Spinnenphobiker der absolute Horror, selbst wenn die Spinne tot ist. Mit dem Gefühls-Amalgam Grusel haben Phobien, die es vor nahezu allem gibt (mein Favorit ist die Trypophobie, die Angst vor Löchern) und für den Betroffenen eine erhebliche Belastung darstellen können, allerdings nicht viel zu tun.
(Foto: Melanie Wasser on Unsplash)
Was ist mit dir, gruselst du dich leicht und wovor? Hast du eine ganz andere Definition von „Grusel“? Hinterlasse mir gern einen Kommentar.
Admin - 17:59 @ Allgemein | 4 Kommentare
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