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11.11.2021
Arthur Machen: Der Berg der Träume. Ein Künstlerroman
Aufgrund seiner unheimlichen Kurzgeschichten („Der große Pan“, „Die weißen Gestalten“ u. a.), dürfte der walisische Autor Arthur Machen (1863-1947) einer wachsenden Zahl von Lesern klassischer Phantastik heute wieder ein Begriff sein, nachdem er lange Zeit unbeachtet blieb. Sein Werk erfährt derzeit eine Würdigung durch die Neuveröffentlichungen im Elfenbein-Verlag (Link zur Verlagsseite).
Das Schaffen des „forgotten father of weird fiction“, wie ihn The Guardian 2009 titulierte, beeinflusste nicht nur H. P. Lovecraft; auch moderne Horror-Autoren wie Stephen King oder Clive Barker zählen Machen zu ihren literarischen Vorbildern.
Der poetische Roman The Hill of Dreams (veröffentlicht 1907) ist zwar nicht Machens bekanntestes, aber wohl eindringlichstes Werk, in das viel eigene Lebenserfahrung miteinfließt. So verarbeitet der Autor darin Kindheitseindrücke sowie seine Erfahrungen als angehender Schriftsteller. Selbst einige Namen im Roman ähneln denen in Machens Biografie auffallend (z. B. liest sich der Name des Städtchens Caermaen ähnlich wie Machens Geburtsort Caerleon-on-Usk; caer = Burg, Stadt, Festung).
Einschub: Nachdem ich von Arthur Machen zuvor nur die Kurzgeschichten aus dem alten Suhrkamp-Band „Die leuchtende Pyramide“ kannte, von denen mich die titelgebende Story sowie „Die weißen Gestalten“ am meisten beeindruckten, war ich sehr gespannt darauf, ein umfangreicheres Werk des Autors zu lesen. Der Berg der Träume habe ich mir aufgrund der Empfehlung auf Frank Duwalds Literaturblog dandelion – abseitige Literatur zugelegt. Seine vorzügliche Buchbesprechung findet sich hier.
Inhalt:
Neben seiner herausragenden sprachlichen Schönheit zeichnet den Roman aus, dass ein Großteil der Geschichte auf das innere Erleben der Hauptfigur gerichtet ist. Über die Schilderung der unberührten walisischen Natur und ihre Wirkung auf Lucian, der schon als Kind ein Außenseiter war, taucht der Leser ein in dessen Fantasiewelt, die in der komplexen Imagination des „Garten des Avallaunius“ gipfelt.
Lucian, Sohn eines armen, von der Dorfgesellschaft belächelten Pfarrers (auch Machen war ein Pfarrerssohn) und einer früh verstorbenen Mutter, nimmt Anteil am Leben einer antiken römischen, allein seiner Fantasie entsprungenen Stadt. Fasziniert folgt er dem unschuldig-dekadenten Treiben ihrer Bewohner, mit denen er sich auf Latein unterhält, und wird Zeuge antiker Mysterienkulte, in die sich keltische Elemente mischen. Hier treten gewisse Parallelen zu „The White People“ („Die weißen Gestalten“) zutage.
Seine ausgeprägten Tagträume helfen Lucian, das Leben unter den „Barbaren“, sprich seinen stumpfsinnig-brutalen und bigotten Mitmenschen, zu ertragen, die ihn und seinen Vater ausgrenzen. Lucians Fantasien wurzeln in einem Traum, den er als Jugendlicher auf dem „Berg der Träume“ durchlebte, als er inmitten der Reste einer alten römischen Befestigungsanlage (dem „Elfenhügel“) einschlief. Es bleibt offen, ob der Traum, der eine deutlich sexuelle Note trägt, zur Gänze ein Traum war. Lucians daraus resultierende Angst, Scham und Verwirrung – und unterdrückte Faszination – tragen mit bei zu seiner Weltabgewandtheit.
Lucians einzige Beziehung zum weiblichen Geschlecht besteht in der Verehrung des älteren Bauernmädchens Annie, die er in seiner Vorstellung idealisiert. Er erhebt Annie zur Ersatzmutter wie auch zu seiner Geliebten und erlebt mit ihr einen einzigen Kuss. Ambitionen, eine Beziehung einzugehen, hat er nicht, in seinem isolierten Leben ist dafür kein Raum. Auch in anderer Hinsicht führt Lucian das Leben eines Asketen: Er magert ab und geißelt sich einem inneren Läuterungsprozess zuliebe. Zudem beschäftigt er sich mit Okkultismus und schlägt den Weg des Adepten ein, der ihm einen anderen, abgehobenen Blickwinkel auf die Welt eröffnet und seinen Fantasien von der „goldenen Stadt Siluriens“ eine fast greifbare Realität verleiht. Durch die opulenten Schilderungen fühlt man sich als Leser mitten hineinversetzt in diese pseudo-antike, märchenhafte Welt. Nicht nur in dieser Passage schimmert Arthur Machens Wissen um okkulte Zusammenhänge durch, über das er als Mitglied des „Hermetic Order of the Golden Dawn“ verfügte, dem auch Aleister Crowley angehörte.
Mit der inneren Reise des Träumers eng verflochten ist die Geschichte des Schriftstellers Lucian, der wiederholt an der Realität verzweifelt. Zuerst an der Anspruchslosigkeit der modernen Leserschaft, später an der Verlogenheit und kriminellen Energie der Literaturwelt: Sein vom Verlag abgelehntes Werk wird unter dem Namen eines bekannten Autors veröffentlicht. Dennoch gibt Lucian sein Ziel, professioneller Schriftsteller zu werden, nicht auf und flieht aus der dörflichen Enge in die Anonymität Londons. Sein überhöhter Selbstanspruch hemmt ihn jedoch allzu oft beim Schreiben und lässt ihn zwischen Enthusiasmus und Frustration schwanken. Aufgrund seiner inneren Wandlung sind ihm Ziele wie gesellschaftliche Anerkennung bedeutungslos geworden und auch Annies Hochzeit mit einem anderen Mann berührt ihn nicht.
Doch in den grauen, schmutzigen Gassen Londons verliert Lucian auch seine vormalige goldene Fantasiewelt aus den Augen und verirrt sich in düsteren, hoffnungslosen Traumszenarien. Die nahezu vollständige Isolation von seinen Mitmenschen, die ihm zuvor als Segen erschien, erweist sich am Ende als Fluch; ein Zurück gibt es nicht mehr. Lucian sieht sich außerstande, dem trübseligen London den Rücken zu kehren, um in seine Heimatstadt und zu seinem „Berg der Träume“ zurückzukehren. Der Sog seiner inneren Finsternis verschlingt ihn letztlich wie der ihn umwabernde Londoner Nebel.
Mein Eindruck:
Sprachlich ein Meisterstück, erreicht der Roman nicht ganz die (im doppelten Wortsinn) unheimliche Intensität der kürzeren Werke Machens. In Lucians Wahrnehmung sind die Grenzen zwischen Innen und Außen, zwischen Realität und Imagination zeitweilig komplett aufgehoben, und das spiegelt auch der Text wider. Die häufigen Wechsel zwischen realer Handlung und Innensicht Lucians sind (in der mir vorliegenden Piper-Ausgabe) selten durch Absätze gekennzeichnet, was mitunter die Orientierung innerhalb der Geschichte erschwert. Damit verlangt der Roman die ungeteilte Aufmerksamkeit des Lesenden. Das stört mich grundsätzlich nicht – ich blättere gern ein paar Seiten zurück, um einen Abschnitt zwecks besseren Verständnis erneut zu lesen oder weil sich in Verbindung mit dem Nachfolgenden ein neuer Kontext erschließt. Allerdings war es mir hin und wieder doch etwas zu viel der irrlichternden Gedankengänge und Visionen, die sich teilweise sehr ähneln, was dazu führt, dass der Reiz mit der Zeit ein Stück weit verlorengeht. Das rätselhafte und bedrohliche Element, das den Zauber von beispielsweise „Die leuchtende Pyramide“ ausmacht, kommt hier allenfalls am Rande vor. Letzteres darf man dem Roman allerdings nicht vorwerfen, er gibt schließlich nicht im Mindesten vor, ein unheimliches Werk zu sein.
Einige der realen Szenen haben mich stark berührt, beinahe intensiver als die reinen Traumsequenzen. Hervorzuheben sind besonders die Passagen, in denen Lucian mit seiner Andersartigkeit konfrontiert wird, wie im Zuge seiner gescheiterten Versuche, mit der „besseren Gesellschaft“ in Kontakt zu treten. Arthur Machens eigene Biografie spielt hier mit hinein (wie auch in seinem Entwicklungsroman The Secret Glory von 1922; Der verborgene Sieg in der Piper-Ausgabe; die erweiterte Neuübersetzung im Elfenbein-Verlag erschien unter dem Titel Der geheime Glanz). Schlucken musste ich bei der Szene, in der Lucian den kindlichen Tierquälern begegnet. Misanthropen werden sich bei der Lektüre bestärkt fühlen.
Fazit:
Der Berg der Träume ist ein literarisch anspruchsvolles, äußerst tiefgründiges Werk und zu Unrecht noch immer eher wenig bekannt. Ich kann es jedem Leser empfehlen, der die unheimlichen Kurzgeschichten Arthur Machens schätzt und den Autor, seine Interessen und Vorlieben näher kennenlernen möchte. Ein Faible für Machens zuweilen sehr ausschmückenden Stil sollte man möglichst mitbringen: Wer seine üppigen Landschaftsbeschreibungen und seine Art, gerade die wesentlichen Dinge mehr anzudeuten als preiszugeben, schätzt, dem bietet Der Berg der Träume nicht nur fantastischen Lesegenuss, sondern auch tiefe Einblicke in die Psyche einer hochintelligenten und -sensiblen, einer begabten, aber verlorenen Seele.
JAJ - 10:10 @ Rezensionen | Kommentar hinzufügen
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Letzte 4 Kommentare
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Lieber Frank,
ich freue mich über deine Antwort, die mir einmal mehr zeigt, …
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Toller Artikel, Julia. Mir geht es ähnlich wie dir: wirklichen Grusel empfinde …
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Liebe Silke,
herzlichen Dank für deine Rückmeldung und deine lobenden Worte…
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Sehr schöner Beitrag mit vielen Facetten, Julia!
Gefreut hat mich auch deine …
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